Nico Brünler: Sachsen gewinnt Fach- und Arbeitskräfte nicht durch die Pflicht, länger zu arbeiten – gute Einkommen und Unterstützung nötig

Die Linksfraktion hat bei der Staatsregierung Datenmaterial zum Arbeits- und Fachkräftebedarf in Sachsen abgefragt (Drucksache 7/13519). Die zentralen Antworten sind hier zusammengefasst. Dazu erklärt der wirtschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion, Nico Brünler:

Der Sozialbericht prognostiziert, dass bis 2035 Jahr für Jahr 20.000 Arbeitskräfte fehlen werden. 1990 lebten im Freistaat fast eine Million Menschen mehr als heute. Schon vor 15 Jahren hat die Enquete-Kommission ,Demografische Entwicklung‘darauf hingewiesen, dass der Fach- und Arbeitskräftenachwuchs nicht ausreicht. Wir wären heute viel weiter, wenn die CDU-geführten Regierungen seitdem gehandelt hätten. Das Arbeitspotential der Menschen, die bereits hier leben, und das derjenigen, die sich noch hier ansiedeln, muss besser ausgeschöpft werden – und zwar durch Anreize und Unterstützung. Das Problem beschränkt sich längst nicht auf die Landesverwaltung, wo im Juli 2023 insgesamt 5.454 Stellen unbesetzt waren. Mehr als ein Drittel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist 50 Jahre alt oder älter. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten wuchs zwischen 2015 und 2022 um etwa 22 Prozent auf 541.469 - nach wie vor arbeiten vor allem Frauen nicht in Vollzeit.

Das Problem wird nicht behoben, indem man Menschen noch länger arbeiten lässt, wie es die CDU will. Wer Arbeitskräfte will, muss diese gerecht bezahlen und gute Bedingungen bieten.

Der Staat sollte vorangehen, indem er öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergibt, die ihre Beschäftigten ordentlich bezahlen. Mehr als die Hälfte der Unternehmen im Eigentum des Freistaates Sachsen sind nicht tarifgebunden! In Sachsen arbeiten seit mindestens 2015 zehn Prozent weniger Beschäftigte in einem Betrieb mit Tarifbindung als in Gesamtdeutschland. Dabei sind in Branchen, in denen viele Fachkräfte fehlen, gleich viele Beschäftigte per Tarifvertrag geschützt wie 2015 (Handel und Industrie), während in anderen Branchen, die vom Fachkräftemangel ebenfalls besonders stark betroffen sind, dieser Anteil gesunken ist (Baugewerbe, Gesundheits- und Sozialwesen). Relativ weit vorn ist mit 39 Prozent das Baugewerbe, das vom Nachwuchsmangel ebenfalls relativ stark betroffen ist. Allerdings gab es dort ein massives Absinken seit 2018 (damals 60 Prozent). In der Industrie liegt die Tarifbindung annähernd konstant bei etwa 28 Prozent.

Die große Zahl an Ausbildungsabbrüchen ist besorgniserregend, zuletzt wurde sogar die 6.000er Marke geknackt. Die tariflichen Ausbildungsvergütungen sind in einigen Mangelberufen sehr niedrig. So erhalten Auszubildende im Bereich Sanitär-Heizung-Klima und im Bau im ersten Jahr lediglich 880 Euro, im Lebensmittelhandwerk sind es nur 680 Euro. Ausbildungen, die nicht von Anfang an ein existenzsicherndes Einkommen bieten, werden nur schwer akzeptiert. Sachsen sollte eine Bundesratsinitiative ergreifen, um eine Mindestausbildungsvergütung in Höhe von 80 Prozent des tariflich gezahlten Lohns festzusetzen. Die duale Ausbildung ist ein Schlüsselfaktor, weil sie theoretisches Wissen und praktische Berufsorientierung verzahnt. Die Staatsregierung muss sie attraktiver machen! Wir fordern zudem eine Bundesratsinitiative, damit Handwerksabschlüsse mit dem Abiturabschluss gleichgestellt werden und ein BAföG-gestütztes Meisterstudium eingeführt wird.

Die Staatsregierung teilt überdies in ihrer Antwort nicht mit, wie viele Menschen bisher abgeschoben worden sind, obwohl eine Beschäftigungserlaubnis vorlag, und wie viele Ausländer mit absolutem Beschäftigungsverbot derzeit in Sachsen leben. Arbeitsverbote für zugewanderte Menschen müssen weg. Geflüchtete Menschen sollen schneller und besser ihre Berufskenntnisse durch praktische Arbeit statt in Papierform nachweisen können. Dazu sollte ein Pilotprogramm mit dem Handwerk starten, Qualifikationschecks sollten möglichst direkt in den Geflüchtetenunterkünften beginnen. Die Ausländerbehörden müssten auf eine möglichst wohlwollende Entscheidungspraxis bei Anträgen auf Beschäftigungserlaubnis verpflichtet werden. Menschen nichtdeutscher Herkunft sind im öffentlichen Dienst fast nicht zu finden: In nennenswertem Umfang vorhanden sind sie nur unter den Lehrkräften und beim Staatstheater, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und den Landeskrankenhäusern Arnsdorf, Großschweidnitz und Rodewisch.

Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist seit 2015 um etwa ein Drittel gesunken, 2022 betraf dies 45.787 Menschen. Die Corona-Krise hat 2020 und vor allem 2021 zu einem starken (Wieder-)Anstieg geführt, der Stand von 2019 (39.231) konnte nicht wieder erreicht werden. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ohne Berufsschulabschluss hat sich während der Corona-Jahre wieder erhöht, sodass die Fortschritte seit 2015 rückgängig gemacht wurden und die Zahl stagniert (16.800). Die Rückschritte bei Menschen mit Berufsausbildung waren nicht so deutlich. Es gab zuletzt 2.400 Langzeitarbeitslose mit akademischen Abschluss. Langzeitarbeitslosigkeit muss verringert werden. Mehr (Aus-)Bildung ist zwar ein Schlüssel, aber viele Langzeiterwerbslose haben vielschichtige Probleme, die dadurch nicht gelöst werden können. Es braucht individuelle Betreuung und spezielle Angebote, auch für öffentlich geförderte Beschäftigung.

Die Zahl der freien Arztsitze ist seit 2015 von 239 auf 518,5 gestiegen, davon 451,5 für Allgemeinmedizin. Mithin treten in den nächsten fünf Jahren 31 Prozent der heute tätigen Hausärztinnen und Hausärzte, 36 Prozent der Fachärztinnen und Fachärzte sowie 25 Prozent der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in den Ruhestand. Die Ausbildungskapazitäten müssen schnellstens erweitert werden, das gilt insbesondere für Studienplätze in Humanmedizin. Bürokratie muss reduziert werden, damit das medizinische Personal mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten bekommt.

Die Zahl der Schulabbrüche ist seit 2015 (mit Ausnahme 2020) gestiegen und bewegt sich auf die Marke von 3.000 Fällen pro Jahr zu. Gute Betreuung erfordert genug Personal - allerdings gehen weiterhin viele Lehrkräfte verloren, die wenigsten aus Altersgründen. Der Renteneintritt betrifft bisher 200 bis 400 Lehrkräfte pro Jahr, mehr als tausend scheiden aufgrund von Auflösungsvertrag, Kündigung, Erwerbsunfähigkeit, Entlassung, Dienstunfähigkeit, Tod oder Versetzung aus dem Schuldienst aus. Die Arbeitsbedingungen müssen dringend besser werden. Eine präzise Arbeitszeiterfassung ist eine Kernfrage. Die Schulsozialarbeit muss schneller ausgebaut werden und alle Schulstandorte dauerhaft erreichen. Das entlastet die Lehrkräfte. Entlastung ist an weiteren Stellen nötig, etwa bei Verwaltungs- und Administrationsaufgaben. Dazu sind multiprofessionelle Teams nötig. Bei der Zulassung zum Lehramtsstudium sollten Kompetenzen statt Noten priorisiert werden. Außerdem ist ein größerer Praxisanteil nötig, denn Lehrkräfte sollen später nicht forschen, sondern unterrichten.“