Weitere Falschbehauptungen zum „Tag X“ aufgedeckt - Juliane Nagel: Innenminister Schuster stellt Parteiinteressen über Professionalität, zum Schaden der Versammlungsfreiheit

Weitere Nachfragen der Leipziger Linken-Landtagsabgeordneten Juliane Nagel zur Großen Anfrage der Linksfraktion zu den Vorgängen am 3. Juni 2023 in Leipzig zeigen: Die Behörden haben die zentrale Versammlung zum Urteil im „Antifa Ost“-Prozess von Anfang an erschwert. Letzteres gilt auch für die parlamentarische Aufklärung – nicht nur wurde die Großen Anfrage der Linksfraktion teils nicht oder nur ungenügend beantwortet, sondern es wurden auch offensichtlich veralte Daten verwendet. Zu diesen und weiteren Aspekte musste sich das Innenministerium auf Nachfrage von Juliane Nagel äußern. Sie erklärt:

„Das Innenministerium räumt erst jetzt ein, dass die ,finalisierte Gefahrenprognose‘ Monate vor dem ,Tag X‘ stattfand. Zu diesem Zeitpunkt war weder ein Urteil im Prozess absehbar noch irgendeine Versammlung dazu in Leipzig angemeldet, deren Verlauf hätte ,prognostiziert‘ werden können (Drucksache 7/16048). Dennoch hat die Polizeidirektion behauptet, dass beispielsweise ,Plünderungen‘ drohen würden, obwohl das nichts mit wirklichen ,Lageerkenntnissen‘ zu tun hatte (Drucksache 7/16047). Solche Fiktionen lagen dennoch der Allgemeinverfügung zugrunde, welche die Stadt Leipzig dann erließ. Zu einer potentiellen unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 15 Versammlungsgesetz lagen zum Zeitpunkt der Verbotsverfügungen offensichtlich keine ,konkreten Erkenntnisse‘ vor. Allerdings gab es verantwortungslose anonyme Gewaltaufrufe im Internet. Deren Urheber sind bis heute unbekannt und hatten keinen Bezug zu angemeldeten Versammlungen.

So wurde die Demonstration in Leipzig im von der Polizei erdachten ,Szenario‘ wie etwa die Ausschreitungen zum G20-Gipfel in Hamburg gewertet. Das war überzogen, genau wie die 17 angeforderten Wasserwerfer. Letztlich fanden sich an dem Tag lediglich etwa 2.000 Menschen ein, eine ganz andere Größenordnung als erwartet. Es irritiert auch, dass das Innenministerium nun erst auf ausdrückliche Nachfrage einräumt, dass die Teilnehmenden der erlaubten Versammlung ausgezählt worden waren (Drucksache 7/16045). In unserer Großen Anfrage war der veraltete Wert von 1.500 Personen angegeben worden.

Auch erst jetzt wird eingeräumt, dass die anmeldende Person der dann verbotenen ,Tag X‘ - Demonstration erst unmittelbar vor der Verbotsverfügung angehört wurde, als das Verbot schon wochenlang angedacht worden war. Somit wurden der Anmeldung offenbar absichtlich nur minimale Chancen gelassen, Bedenken auszuräumen. Es war offenbar gar nicht erwünscht, dass die Mobilisierung in jenen gemäßigten friedlichen Bahnen verläuft, für die beispielsweise mein Abgeordnetenbüro öffentlich geworben hatte. Von den Verboten waren dann insgesamt 16 Versammlungen betroffen – die Versammlungsfreiheit wurde tagelang massiv eingeschränkt. Das ist keine Bagatelle. Selbst Rechtsanwältinnen und -anwälte, die am Amtsgericht ihre Mandate wahrnahmen, wurden gekesselt und mit Platzverweisen belegt (Drucksache 7/16046).

Nachdem die behaupteten ,Anschläge‘ auf private PKW von Polizeibediensteten bereits als Ente entlarvt waren (Drucksache 7/14904), gibt das Innenministerium nun auch zu, dass im Kessel keine ,Teleskopschlagstöcke‘ gefunden wurden. Die Polizei habe ausziehbare Fahnenstangen nicht von solchen unterscheiden können (Drucksache 7/16044). Dies weckt starke Zweifel an Professionalität und Sorgfalt der Polizei. Pikant an dem Widerruf ist, dass die Falschbehauptung mehrere Tage nach dem Geschehen per Pressemeldung der Polizei Leipzig in Umlauf gebracht wurde.

Wir bekommen nur häppchenweise weitere Informationen über die behördlichen Einsatzplanungen und die Durchführung. Das zeigt: Innenminister Armin Schuster sperrt sich weiter einer kritischen Aufarbeitung. So wächst der Eindruck, dass Parteiinteressen über einem professionellen und grundrechtswahrenden Umgang mit dem Demonstrationsgeschehen standen und stehen sollten. Die CDU hat offenbar darauf hingewirkt, im Vorfeld ein Schreckensszenario zu zeichnen, und damit alles andere als deeskalierend gewirkt. Das ist nichts Neues von einem Innenminister, der seit seinem ersten Tag im Amt vor allem Wahlkampf macht. Es sind noch längst nicht alle Ungereimtheiten und Widersprüche aufgeklärt. Wir bleiben dran.“