308/2012: „Systemfehler“ des Verfassungsschutzes gegenüber Nazi-Terror

Hahn/Köditz: Jetzt Konsequenzen aus systematischem Versagen des Verfassungsschutzes gegenüber Nazi-Terrornetzwerk prüfen

Zur Stellungnahme der Minderheit in der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) zum vorläufigen Abschlussbericht des Gremiums mit der Bewertung der Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz bezüglich des neonazistischen Terrornetzwerkes erklärt der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag, Dr. André Hahn:

Der vom Innenminister vorgelegte Bericht ist eine Chronik des Versagens der zuständigen Behörden einschließlich des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Das konnten selbst die Vertreter der Koalition in der PKK nicht mehr schönreden.

Das zweite Mitglied der Fraktion DIE LINKE in der PKK, die Sprecherin für antifaschistische Politik der Fraktion, Kerstin Köditz, fügt hinzu:

Nun müssen die notwendigen Konsequenzen geprüft werden. Dazu ist eine externe Tiefenprüfung im Landesamt für Verfassungsschutz durchzuführen, da es sich eher um Systemfehler als um bloßes individuelles Versagen handelt.

Stellungnahme der Minderheit in der Parlamentarischen Kontrollkommission, Dr. André Hahn und Kerstin Köditz (beide DIE LINKE), zum „Vorläufigen Abschlussbericht der PKK“, vorgelegt vom Kommissionsvorsitzenden Prof. Dr. Günther Schneider und durch Mehrheit am 22.6.2012 beschlossen

Der „Vorläufige Abschlussbericht der PKK“ zur Bewertung der Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Sachsen in Bezug auf das neonazistische Terrornetzwerk, welches sich selbst den Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gegeben hat, fand nicht unsere Zustimmung. Zum einen gibt es in diesem Bericht zahlreiche kleinere und größere Ungenauigkeiten bzw. fragwürdige Formulierungen und zweitens werden aus unserer Sicht grundsätzliche Probleme nicht thematisiert.

Im Bericht der Mehrheit der PKK werden Defizite im Zusammenwirken der Sicherheitsbehörden sowie im eigenen Vorgehen des LfV beschrieben. Diese Einschätzung teilen wir ausdrücklich. Darüber hinaus sehen wir aber den grundsätzlichen strategischen Arbeitsansatz des LfV nach den Vorgaben der regierungsamtlichen Extremismusdoktrin als mitursächlich für die festgestellten Fehler und Fehleinschätzungen des LfV im Zusammenhang mit der Erkenntnisgewinnung und –auswertung zum Themenkomplex „NSU“ an.

Bezüglich der Defizite im eigenen Vorgehen des LfV mussten wir mehrfach zur Kenntnis nehmen, dass strukturelle Vernetzungen im Bereich Rechtsextremismus/-terrorismus nicht wahrgenommen wurden (bzw. werden). Als sehr problematisch schätzen wir ein, dass eine rassistische und internationale Bewegung mit ausgearbeiteten Handlungskonzepten für Anschläge und Terror, wie „Blood & Honour“ mit deren Suborganisation „Combat 18“, auf eine bloße subkulturelle Gruppierung mit Bedeutung ausschließlich im Bereich der Organisation von Konzerten und der Produktion von CDs sowie Zeitschriften reduziert wird. Solche Fehleinschätzungen wirken sich nicht nur fatal auf das Lagebild im Freistaat Sachsen aus, sondern verhindern zugleich, dass wirksame Gegenmaßnahmen getroffen werden. Eine auch nur ansatzweise realistische Trendanalyse durch das LfV hat nach unseren Informationen nicht stattgefunden. Wir haben begründete Zweifel, dass uns als PKK trotz wiederholter Aufforderung zum Komplex „Blood & Honour“ sowie seiner sächsischen Nachfolgestruktur wirklich alle beim LfV existenten relevanten Unterlagen und Informationen vorgelegt worden sind.

Des Weiteren blieb das Bild, welches das LfV der PKK bezüglich der extrem rechten Szene in der Stadt J., aus welcher eine Vielzahl der jetzt der Unterstützung des NSU Beschuldigten stammt, bis heute sehr widersprüchlich und eigentlich fragmentarisch.

Grundsätzlich fehlt uns im Bericht die Problematisierung der so genannten „V-Leute“. Für uns sind dies zuerst Angehörige der Neonazi-Szene, die für Geld und/oder andere Leistungen wie der Schutz vor Strafverfolgung, Informationen weitergeben. Die Auswahl dieser Informanten blieb uns wenig nachvollziehbar; ein kritischer Umgang mit dem Wahrheitsgehalt bzw. der Wertigkeit der erhaltenen Informationen war für uns nicht feststellbar. Erschreckend waren für uns insbesondere die Zusammenhänge mit der „Quelle“ aus Brandenburg, sowohl zur Person selbst als auch den Umgang mit seinen Informationen betreffend. Uns ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden, dass ein vergleichbarer Fall, dass ein V-Mann des Landesamtes sogar die Beschaffung von Waffen verspricht, in Sachsen nicht möglich wäre.

Die Begrenztheit der Kontrollmöglichkeiten der PKK trat im Gesamtkomplex deutlich zu Tage. Das LfV legte der PKK Akten vor, deren Vollständigkeit nicht nachgeprüft werden konnte. Auf Verlangen wurden zu einem späteren Termin jeweils die angeforderten Akten vorgelegt. Das Verlangen ging zumeist auf Enthüllungen in Medienberichten zurück. Den Journalistinnen und Journalisten, die sich im Sinne von Demokratie und Transparenz um die Aufklärung verdient gemacht haben, möchten wir an dieser Stelle unseren Dank und unsere Anerkennung für die engagierte Recherchearbeit aussprechen. Dem Untersuchungsausschuss zu den „Neonazistischen Terrornetzwerken in Sachsen“ liegen bereits jetzt dutzende Aktenordner vor, weit mehr als die PKK im Verlauf ihrer bisherigen Tätigkeit je zu Gesicht bekommen hat. Dies unterstreicht nachdrücklich die Notwendigkeit der Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses, zeigt aber gleichzeitig, dass die PKK durch das LfV in ihrer Arbeit bestenfalls zurückhaltend und teilweise nur widerwillig unterstützt worden ist.

Der dem PKK-Bericht zugrundeliegende Bericht des Sächsischen Ministeriums des Innern formuliert als abschließende Konsequenz:

 Darüber hinaus sollte die Analysefähigkeit des LfV Sachsen verbessert werden. Hierfür müssten qualitativ hochwertig ausgebildete Mitarbeiter, insbesondere auch für Netzwerkanalysen zur Verfügung stehen. Auch organisatorisch könnte und müsste insbesondere das Referat Rechtsextremismus (Auswertung) stärker auf Analyse hin ausgerichtet werden.

Dieser Satz fand Eingang in den Bericht der PKK, er beschreibt aber sehr deutlich einen Teil des Problems. Diese Schlussfolgerung kann allerdings nur eine Minimalforderung sein. Unabhängig von unserer grundsätzlichen Einstellung, dass eine funktionierende Demokratie keines Inlandsgeheimdienstes bedarf und andere Mittel zur Erreichung des angestrebten Zieles sinnvoller wären, können wir bereits zum jetzigen Stand der Aufarbeitung durch die PKK feststellen, dass eine umfassende externe Evaluation und Tiefenanalyse der Tätigkeit des LfV unverzichtbar ist. Ob und in welchem Umfang personelle Konsequenzen zu ziehen sein werden, wird sich aus der Arbeit des Untersuchungsausschusses ergeben.