Rico Gebhardt: Das zerbrochene Alte reparieren? Besser neu anfangen!

Rico Gebhardt, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag, erklärt:

 

Das Corona-Virus bringt die Gesellschaft und uns alle an Grenzen – die einen mehr, andere weniger. Vieles, was unumstößlich schien, wird hinterfragt, Angst und Hoffnung gehen Hand in Hand. Wir dürfen fragen: Waren die Entscheidungen der Regierenden für die nächsten Jahre und Jahrzehnte die richtigen? Und ist es sinnvoll, nur wieder aufzubauen, was jetzt einstürzt?

Regierungen und Parlamente handeln in kaum gekannter Geschwindigkeit. Gegen die Ausbreitung des Virus müssen auch drastische Maßnahmen ergriffen werden. Leider müssen wir damit leben, dass innerhalb enger Grenzen und für einen kurzen Zeitraum Freiheitsrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Wir müssen in allererster Linie Leben retten. Aber wir dürfen nicht vergessen: Viele Probleme, die uns jetzt plagen, wurzeln in der Zeit vor der Pandemie. Für viele geht es schlicht ums Überleben im Alltag, und das in einer der größten Wirtschaftsnationen der Welt. Wer schon vor der Krise Geldsorgen hatte, hat diese jetzt umso mehr.

Wir könnten es uns jetzt leicht machen und aus unserer Oppositionsrolle heraus mitteilen, was wir schon immer besser gewusst haben. Doch darum geht es nicht, und so leicht ist es auch nicht. Gleichwohl ist es unsere Aufgabe, aus Missständen und unserer Kritik daran zukunftsgewandte Ideen abzuleiten. In einer Krise, die vieles in Frage stellt, eröffnen sich neue Perspektiven, und ich bin überzeugt, dass wir mehr anstreben müssen als eine Rückkehr in die „alte Zeiten“. Wir können und sollten Grundsätzliches verändern, denn das alte Lied, dass staatliche Interventionen in Wirtschaft und Gesellschaft Teufelszeug und „die Politiker“ nicht handlungsfähig seien, ist verstummt. Ich möchte an drei Bereichen zeigen, wie wir aus der Krise in eine gerechtere und solidarische Gesellschaft starten sollten.

Regionalere Wirtschaft mit guten Löhnen hilft allen

Neuorganisation fängt bei der Wirtschaft an. Sachsens Unternehmenslandschaft besteht vor allem aus kleinen und mittleren Betrieben, viele haben nur eine Handvoll Beschäftigte oder kämpfen allein, mit Kleinstunternehmen oder als Soloselbstständige. Die wenigsten konnten Rücklagen bilden und stehen jetzt, da die Einnahmen wegbrechen, schnell vor dem Aus. Das geht vom Laden mit „Waren des täglichen Bedarfs“ über den Friseursalon bis hin zu Kulturschaffenden. 

Kredite helfen da kaum. Aber auch Sofortprogramme und unbürokratische Liquiditätshilfen können über das Gefühl der Unsicherheit nicht hinwegtäuschen. Denn niemand weiß, wie lange die Krise dauert. Deshalb müssen wir aufpassen, dass uns die „Kleinen“ nicht wegbrechen. Wir müssen ihre Basis sichern, alle gemeinsam, indem wir regionale Wirtschaftskreisläufe ankurbeln. Die Bevorzugung des Lokalen vor dem Internationalen ist nicht nationalistisch, sondern ein Beitrag zur Nachhaltigkeit. Wir müssen unabhängig von der Coronakrise Förderprogramme umbauen, etwa das Programm „Vitale Dorfkerne und Ortszentren im ländlichen Raum“ zu „Dorfläden in Sachsen“. Wir sollten die Cluster-Bildung der regionalen Wirtschaft fördern und Betriebe enger mit öffentlichen Forschungseinrichtungen vernetzen. Der Fokus sollte dabei auf ökologisch sinnvollem Wirtschaften liegen. Mit Blick auf größere Unternehmen, die nun viel staatliche Hilfe bekommen, darf die Übernahme von unternehmerischem Eigentum kein Tabu sein. Mehr öffentliches und Belegschaftseigentum nützt der Gesellschaft, vor allem in Bereichen, ohne die sie nicht leben kann: Pflege und Gesundheit, Wohnen, Energieversorgung, aber auch Mobilität.

Es geht zudem um Anerkennung und Wertschätzung. Wir haben vorgeschlagen, dass die Allgemeinheit all jenen zehn zusätzliche Urlaubstage spendiert, die während der Pandemie intensiven Kontakt mit Menschen pflegen mussten – ob als Altenpflegerin oder als Verkäufer. Doch Anerkennung muss sich langfristig zeigen. Wir können nicht im Landtag beschließen, dass die Löhne steigen müssen. Aber wir können Druck machen, etwa indem wir öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben, die nachhaltig wirtschaften und ihre Leute anständig bezahlen.

Gesundheit für alle gibt es nur, wenn alle mitmachen

Auch wenn wir im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gut dastehen, spürt unser Gesundheitswesen diese Krise stark. Wir erleben jetzt, wie anfällig Privatisierungen und Kostendruck das System gemacht haben. Krankenhäuser halten Kapazitäten für Corona-Erkrankte frei, schieben andere Operationen auf und kommen dadurch in Geldnot. Privatversicherte Selbstständige, die ohne Einnahmen dastehen, müssen vom Staat vor der Gier ihrer Versicherer geschützt werden. Welch ein Irrsinn, und das sind nur zwei Beispiele!

Wenn wir eines aus der Krise lernen, dann dass Gesundheit sich weder rechnen muss noch rechnen darf. Profit ist dort der völlig falsche Ansatz. Wir brauchen ein stabiles Gesundheitswesen, das verlässlich für alle da ist. Das ist nur möglich, wenn alle es solidarisch mitfinanzieren, egal wie viel Geld sie haben und wie viele oder wenige Leistungen sie ihrer jetzigen Lebensphase brauchen. Die Vernunft gebietet es, eine Krankenkasse für alle einzurichten, die nur jene bereichert, die es verdienen: die Patientinnen und Patienten, und natürlich das medizinische Personal. Der Wohlstand unserer Gesellschaft hängt nicht nur vom Stahlwerker, dem Autobauer oder der IT-Spezialistin ab, sondern auch von allen, die dafür sorgen, dass wir gesund unseren Tätigkeiten nachgehen können. Wir müssen das Pflegepersonal besser bezahlen und für eine gute Ausbildung des gesamten medizinischen Personals sorgen. Und wir müssen die Krankenhäuser besser ausstatten. Das ist bezahlbar – wenn alle mitmachen. 

Eine zweite Lehre sollte lauten: Gesundheitspolitik muss stärker auf Prävention setzen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst, vulgo die Gesundheitsämter, muss endlich besser ausgestattet werden. Wir brauchen in Sachsen ein Landesgesundheitsamt, das den Bedarf hinsichtlich der medizinischen Versorgung erfasst und eine Koordinierungsfunktion übernimmt. 

Bildung für alle digitalisieren

Wie sehr unser Bildungssystem hinterherhinkt, zeigt sich jetzt deutlich. Die Lehrkräfte bemühen sich redlich, aus der Not eine Tugend zu machen, aber sie können nicht ausgleichen, was die Regierenden versäumt haben. Kinder und Eltern müssen es jetzt ausbaden. Wenn digitales Lernen nur heißt, einen Berg an Aufgaben per E-Mail zu bekommen, ist das nicht zufriedenstellend. Und es verschärft soziale Ungleichgewichte im Schulwesen. Denn wenn der Präsenzunterricht fehlt, der unterschiedliche Startbedingungen und Chancen ausgleichen kann, bekommen Kinder aus ärmeren Elternhäusern noch weniger Förderung als sonst. Wo das Geld fehlt für großzügigen Wohnraum, digitale Endgeräte, eine schnelle Leitung ins Netz, einen Kinder-Schreibtisch oder ganz profan für Druckerpatronen, schlägt die Krise noch stärker durch. Vor allem in Familien, die ihr Zusammenleben auf teilweise engstem Raum organisieren müssen, ist noch mehr Stress vorprogrammiert. Die Debatte, ob wir die Sommerferien streichen, ist absurd. 

Nur der Staat kann dafür sorgen, dass alle Kinder ähnliche Chancen und Lernvoraussetzungen bekommen. Wir müssen grundsätzlich klären, wie wir Bildung für alle wirklich digitalisieren können. Ich finde, dass jedem Schulkind ein digitales Endgerät gestellt werden sollte, und dass die Landesregierung endlich auch im entlegensten Winkel einen schnellen Internetzugang ermöglichen muss. Doch auch der richtige Umgang mit den Geräten und digitalen Lerninhalten ist entscheidend. Dafür brauchen Lehrerkräfte regelmäßige Weiterbildungen. 

Die Pandemie zwingt uns perspektivisch auch zur Verkleinerung der Lerngruppen. Auch hier treibt die Krise voran, was längst hätte passieren müssen: Individuelle Förderung gelingt nur, wenn Lehrkräfte sich nicht um zu viele junge Menschen kümmern müssen. Und es gibt sie, nebenbei bemerkt, am besten mit längerem gemeinsamen Lernen. Spätestens jetzt wird auch klar: Wir brauchen Schulgebäude, die eine Beschulung außerhalb von Klassenverbünden und -räumen ermöglichen, die flexibel gestaltbar sind, offene Denkräume und Lernlandschaften schaffen. Kreative Köpfe brauchen kreative Methoden. Und weil es sich mit vollem Magen besser lernt, sollte jedes Kind kostenfrei ein gesundes Mittagessen bekommen.

Die Aufgabenliste ist lang. Es ist Zeit für Neues. Legen wir los!“

Ungekürzte Fassung des Papiers hier.

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